Full text: XXVII. Ausstellung der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs Secession Wien

hauche bebenden Uferweiden. Um sich mit Carrieres Kunst 
zu befreunden, muß man stehen bleiben, muß man verweilen 
und schauen, bis der Nebel verfließt, und dann wird man den 
Künstler und seine Bilder liebgewinnen. Wie Corot die ganze 
stille und feine Poesie des Weihers, der Luft, der Bäume, der 
Singvögel auf die Leinwand bannte, so gibt Carriöre nicht 
das Porträt eines beliebigen Menschen, sondern er malt die 
Seele seines Modells, wie sie von seiner eignen Seele erkannt 
wurde. 
Er malt nicht eine Mutter mit ihren Kindern, sondern er 
malt die Mutterliebe und die Kindesliebe, er zeigt uns nicht, 
wie seine Töchter an einer bestimmten Altersstufe ausgesehen 
haben, sondern wie innig und warm er sie geliebt hat, wie zärt 
lich sein Vaterherz bei ihrem Anblicke schlug, wie er sein höch 
stes Glück im Kreise der Seinen fand. 
Und das ist doch trotz Courbet und dem Realismus immer 
noch das höchste, was uns die Kunst geben kann. Natürlich 
muß der Maler malen können; wenn er es aber kann, dann soll 
er uns mehr geben als eine bloße, rein sachliche Kopie. Schwind, 
dem wir getrost glauben können, meinte in seiner treuherzigen, 
drastischen Art: «Wenn einer so seine Freude an einem schö 
nen Bäumchen hat und er malt seine ganze Freude und Liebe 
hin, das ist doch was anderes, als wenn irgend ein Esel kommt 
und es buchstäblich abschmiert!» 
Die Gemütstiefe, die wir Deutsche zu Unrecht für unser 
Volk reservieren möchten, hat in den Franzosen Corot und 
Carriere zwei ebenso ausgezeichnete Interpreten gefunden wie 
in den Deutschen Richter und Schwind und es ist sehr wahr 
scheinlich, daß die Franzosen dabei zwar nicht die besseren 
Zeichner, wohl aber weitaus die besseren Maler waren.
	        
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