Full text: 1. Ausstellung Egon Schiele 1923

sehen Karnevals läßt sie der Maler der «Delirien» über eine 
riesenhafte Leinwand jagen, Aus solchen Angstträumen 
einer überhitzten Phantasie flüchtet er endlich in das 
Reich gedanklicher Abstraktion. Ein frühreifer Skeptiker, 
belauert Schiele mißtrauisch seine eigenen Ekstasen, ln 
grüblerischer Selbstzerfleischung entlarvt er den Typus 
des Menschheits-Beglückers, dessen Miene und Gebärde 
stets größer ist als ihr jeweiliger innerer Anlaß: den 
«Propheten» begrinst die Hohlform seines Schädels; der 
grausam verkrümmte «Lyriker», ein wahrer Atlas des 
Weltschmerzes, ist unter seiner unsichtbaren Last gänz 
lich zusammengebrochen. 
Daß dieser Lyriker aber, in dem sich ein verzerrtes 
Selbstporträt des Künstlers verbirgt, all seine Inbrunst 
nicht vergeblich verströmt, erweisen jene Werke der 
mittleren Zeit Schieies, aus denen die Innigkeit der 
Empfindung alle virtuosenhaften und literarischen Züge 
verdrängt hat. Dem Gefühlsbewußtsein des Jünglings 
vermitteln die geheimnisvollen Vorgänge des Werdens 
und Vergehens die tiefsten Erlebniswerte. So hat er in 
unvergeßlichen Zeichnungen die herben Formen knos 
pender Jungfräulichkeit festgehalten, so auch die spröde 
Grazie ephebenhafter Knabenkörper, die sich sehnsüchtig 
strecken, da sie erste Schauer des Frühlingserwachens 
durchrieseln. Ihr Widerspiel mag man in jenen traumver- 
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