Full text: Das Wiener Portrait in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts: April - Mai 1905

OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOQOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO 
o Zeiten besser als in stilistischen gedeihen. Diese Tatsache wird am sichte o 
o barsten, wenn der Realismus eine Stilepoche gerade abgelöst hat. Als auf o 
o die Epigonen des giottesken Stils die ersten Wahrheitsfanatiker des o 
o Quattrocento folgten, als Caravaggio seinen Naturalismus den Bolognesen o 
o entgegenstemmte, da trat neben dem Genrebild, später auch dem Stille o 
o leben, das Porträt plötzlich in den Vordergrund. Die Regel gilt, auch o 
o wenn die großen Meister uns Ausnahmen dünken. Michelangelo freilich o 
g ist ihr herrlichster Beweis. Seine stilbildende Gewalt, die nur aus den g 
g Tiefen der eigenen vulkanischen Phantasie zu schöpfen vermochte, hin' g 
o derte ihn, je ein Porträt zu machen. Aber wenn Rembrandt, Tizian, o 
o Velasquez, Rubens, die man doch nicht schlankweg Realisten nennen o 
g darf, dennoch als die größten Porträtisten erscheinen, so hat das seine g 
g Ursache in dem Mysterium der genialen Persönlichkeit, die harmonisch o 
o zu vereinen weiß, was die tiefere Region der Talente oft gegensätzlich o 
o anmutet. Das andere Moment, daran die Blüte des Porträts geknüpft ist, o 
o kann ein soziologisches genannt werden. Die Frage lautet hier nicht, o 
o wann am liebsten die Maler ihre Kunst im Porträt aufwenden, sondern o 
g wann sich die Leute besonders gern porträtieren lassen. Die Pflege des o 
o Porträts ist ja nicht allein von den Künstlern, sondern auch von den Auftrag" o 
o gebem, abhängig, die bewirken können, daß es nicht immer wieder nur ein o 
g Einzelfall bleibt, sich vielmehr zu einem Brauche entwickelt, der Kunst und o 
o Künstler leben läßt. In den „Charakteren“ des Theophrast wird erzählt, o 
g daß es die reichen Athener des dritten Jahrhunderts v. Chr. als zum guten o 
g Ton gehörig ansahen, drei rühmenswerte Dinge ihr eigen zu nennen: ein o 
g hübsch gebautes Haus, ein trefflich angepflanztes Landgut und ein ähm o 
g liches Porträt. Die Blüte des Porträts braucht daher mit dem Gipfel o 
g der Kultur, den ein Volk erreicht, nicht zusammenzufallen. Aber die o 
g herrschende Gesellschaft muß einen bestimmten Wohlstand erlangt o 
g haben, Geschmack und Daseinsfreude, gewisse geistige Interessen und o 
o seelische Bedürfnisse besitzen, damit sich neben anderen Gewohnheiten o 
o o 
ooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.