Full text: Belvedere - Zeitschrift für bildende Kunst (Heft 1, 2003)

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Belvedere 1/2003 
LARS KOKKONEN 
Apocalypse Now (Nächtliche Ergüsse) 
John Martins Profanität 
im England des 19. Jahrhunderts 
1 - William Feaver, The 
Art of John Martin, Ox 
ford 1975, S. 54. 
2 - Zur Behandlung sei 
nes Rufes und seiner 
Stellung in Frankreich 
siehe Jean Seznec, John 
Martin en France, Lon 
don 1964. Ebenfalls 
Christopher Thomson, 
Le feu du ciel' de Vic 
tor Hugo et John Mar 
tin, in: Gazette des 
Beaux-Arts 65/1965, 
S. 247-256. 
3 - Zu John Martin, Ar 
nold's Magazine of the 
Fine Arts 3/1833, S. 97. 
4 - Thomas Baiston, 
John Martin, 1789- 
1854: His Life and 
Works, London 1947. 
5 - William Feaver, wie 
Anm. 1. 
6 - Zu seinem Einfluß 
in Frankreich siehe 
Anm. 2. Für neuere Stu 
dien zu Martins Einfluß 
auf amerikanische 
Künstler siehe Andrew 
Wilton, Tim Barringer, 
American Sublime: 
Landscape Painting in 
the United States 1820- 
1880, Ausst. Kat. Tate 
Gallery, London 2002, 
S. 18. Gail E. Husch, So- 
mething Coming: Apo- 
calyptic Expectation & 
Mid-Nineteenth-Cen- 
tury American Painting, 
Hanover 2000, S. 8, 
110-111. David Bjela- 
jac, Millenial Desire 
and the Apocalyptic Vi 
sion of Washington, 
Allston 1998, S. 103. 
Michael J. Tammenga, 
The Influence of John 
Martin on the Art of 
Thomas Cole, Vander- 
bilt University 1908. 
Dieser Artikel hat seinen Ursprung in einer Se 
minararbeit für das im Frühjahrssemester 2002 
bei Prof. Patricia Mainardi stattfindende Seminar 
über Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert am 
Graduate Center, The City University of New 
York. Mein Dank gilt Prof. Mainardi für ihre un 
schätzbare Beratung und Unterstützung. Mein 
Gebrauch des Begriffes „Profanität" im Zusam 
menhang mit Martins Etikettbruch bei seiner 
Anwendung des Landschaftsmalereiidioms ist als 
Hommage an Ronald Paulson gedacht und sei 
nem Begriff von Turners „Grafitti" bzw. die be 
absichtigte Vermischung des Künstlers von ver 
balen und visuellen Wortspielen auf der Lein 
wand. 
Der Grund für meinen Gebrauch des Begriffes 
„nächtlich" im Titel kommt von der Zuschrei 
bung in Literatur der Vergangenheit und Ge 
genwart für John Martin, daß er die „Dunkelheit 
sichtbar" machte (so in Buch 1, Vers 63 von 
John Miltons Paradise Lost, für das Martin 1820 
eine Serie von Mezzotintoentwürfen anfertigte, 
wie im vorliegenden Artikel auch besprochen 
wird). Im Gegensatz dazu galt und gilt Turner 
als „Maler des Lichts" und soll auf dem Toten 
bett gesagt haben: „ Die Sonne ist Gott". 
Obwohl er die Britischen Inseln nie verlassen 
hatte, 1 erlangte John Martin zu Lebzeiten inter 
nationale Berühmtheit. Zuhause erreichte seine 
Bekanntheit einen solchen Grad, daß der Begriff 
„Martinesque" geprägt wurde, um mit einem 
Wort die einmalige Art seiner piktoralen Schau 
spiele zu treffen. 2 Ein für den Künstler eingenom 
mener Kritiker schrieb 1833 selbstbewußt: „Wir 
nehmen an, daß es wenige Leser unseres Maga- 
zines gibt... die nicht mit dem Namen John Mar 
tins vertraut sind, denen der Name kein geläufi 
ger Begriff ist, der alles einschließt, was in der 
Kunst groß und glorreich ist." 3 
Doch nach seinem Tod 1854 geriet Martin fast 
völlig in Vergessenheit. Erst 1947 begann mit 
Thomas Baistons ausführlicher Studie die ernst 
hafte akademische Rückbesinnung auf Martins 
Platz in der Geschichte britischer Kunst. 4 Seit die 
ser Publikation verstärkte sich das kunsthistori 
sche Interesse an Martins riesigen Ölgemälden 
und den düsteren Mezzotinto-Stichen und er 
reichte einen Höhepunkt mit der 1975 erschiene 
nen Monographie von William Feaver. 5 Neuere 
Studien zogen auch die Wirkung von Martins 
Entwürfen auf seine Zeitgenossen in Betracht, et 
wa den Einfluß seiner visionären Szenen auf Li 
teraten und Maler in Frankreich und den Verei 
nigten Staaten. 6 
Doch obwohl einige von Martins Ölgemälden 
heute in den wichtigsten Sammlungen britischer 
Kunst zu finden sind, werden sie kunsthistorisch 
als Vulgaritäten betrachtet, verglichen mit den 
Errungenschaften seines Zeitgenossen J. M. W. 
Turner (1775-1851), der sich mit den Meistern 
der klassischen Landschaftsmalerei des 17. Jahr 
hunderts maß. Was bisher in der Forschung nicht 
betont wurde, ist die gut dokumentierte Tatsa 
che, daß Martins zugegebene Unbildung in der 
Sprache der Landschaftsmalerei in der Art des 
Grand Style sowohl gewollt war - Entfesseln der 
Phantasie durch Abstreifen der erstickenden Be 
schränkungen der veralteten akademischen Tra 
dition - als auch ein Ergebnis technischer Unfä 
higkeit durch fehlende Aus- und Geschmacksbil 
dung. Martin war aber während seiner Karriere 
um offizielle Anerkennung und auch Ruhm be 
müht und beklagte zeitweise öffentlich seine 
fehlende künstlerische Ausbildung, wie unten 
besprochen wird. Doch obwohl ihm selbst seine 
Untüchtigkeit in akademischer Technik bewußt 
war, in der Tat gerade deswegen und auf Grund 
seines konsequenten Stiles, sollte man Martins 
kolossale Szenen apokalyptischer Verwüstung im 
Vergleich mit Turner nicht nur als „haarsträuben-
	        
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