Belvedere 1/2003
LARS KOKKONEN - Apocalypse Now (Nächtliche Ergüsse)
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in Fortführung von Lorrain und Poussin malen
konnte. Diese waren von Reynolds als Vorbilder
ausgesucht worden - wenn auch eine Kategorie
tieferstehend als Historienmalerei - für die akzep
table Balance zwischen idealisierter menschlicher
Gestalt, erhebendem Thema und allgemeiner na
türlicher Umgebung. 35 Gut informiert durch seine
formale Ausbildung und sein privates Studium
historischer Landschaftsmalerei, konnte Turner
diese Lektionen als Startpunkte benützen, um
seine Vorgänger zu übertreffen (Abb. 4).
Martin andererseits, „betrachtete die Royal Aca
demy von den Ebenen Ninivehs und den Rui
nen Babylons aus" 36 , wie Constable gesagt ha
ben soll. Martin wurde dementsprechend in die
letzteren der „Wir gegen Sie" und „Hoch gegen
Tief"-Lager der Academy plaziert. Gleichzeitig
wurde er an die Peripherie ihrer Ausstellungs
räume verbannt, falls er es überhaupt je bis zur
Tür schaffte. Er griff deshalb zu anderen, vulgä
reren Mitteln als Ölgemälden, um seinen Namen
bekannt zu machen, indem er herstellte, was Ri
chard Daniel Altick „Kunst für das Volk 1 ' 37 nann
te. Diese Mittel waren: Reproduktionen seiner
Werke in sentimentalen Groschenheften wie
The Keepsake und Forget-Me-Not, Schaustel
lung seiner Werke gegen Eintrittspreis in Rum
melbuden wie William Bullocks „Ägyptischer
Halle" in Piccadilly, oft als Werbung für seine
Drucke; und Mezzotintostiche, billig und in Mas
sen reproduziert dank der Erfindung der Weich
stahlplatte, die widerstandsfähiger war als frühe
re Kupferplatten. Wie Martin dem Committee
1836 mitteilte:
Nachdem ich lange Zeit brauchte, um ein Bild zu
malen, hatte ich nicht die Gelegenheiten wie an
dere, es vorteilhaft zu präsentieren; und da ich
mir nicht leisten konnte, Werke nur für meine ei
genen vier Wände zu produzieren, wurde ich ge
zwungen, zu Mitteln zu greifen, um dem Publi
kum meine Arbeiten zu zeigen und für meine
Arbeit belohnt zu werden. 38
Martin verwendete nichttraditionelle Methoden
der Kunstproduktion und Ausstellung für seine
doch beträchtlichen Gewinne. Zwischen 1824
und 1827 produzierte er Originalentwürfe direkt
auf die Platte zur Illustration von Miltons „Para-
dise Lost" für den Verleger Septimus Prowett. In
dieser frühen Periode verdiente er ungefähr
2000 (heute etwa 85.000) Pfund. 39
Mit diesem Hintergrund von beruflichen Grenz
überschreitungen und wenigen positiven Emp
fehlungen verwundert es nicht, auf Beschrei
bungen seiner Landschaften zu stoßen, die an
Höhepunkte oder, wie Martin Meisel es formu
lierte, „das Klimakterische” 40 erinnern. Gemeint
ist der Zeitpunkt, da Leidenschaft und Gefühl
überquellen - (die „Ergüsse" meines Titels) - da
sein Werk das Ende von Ordnung und Harmo
nie durch umwälzende Kräfte darstellte. Es be
hauptete seine Modernität in dem Bruch der ak
zeptierten Normen bezüglich der Ideenbildung,
Ausführung und Vermarktung von Kunst.
Um die Analogie von Martins Obszönität im Zu
sammenhang weiterzuführen, hat die Charlotte
Bronte-Expertin Christine Alexander in der Dis
kussion um die Beschäftigung einer erwachenden
Schriftstellerin mit Martins Werk angemerkt:
Vor allem war es die theatralische Rhetorik von
Martins Bildern - die dramatische Position seiner
Figuren und die Ströme von Donner und Blitz,
die über seine Leinwände zuckten - die die Phan
tasie der jungen Charlotte Bronte anregte
Martins Bildsprache wurde in ihren Schriften as
soziiert mit sexuellem Verlangen und dem Inak
zeptablen in der Kunst ... Als Charlotte Bronte
ihre frühen Schriften im Alter von 23 Jahren ver
warf, tat sie es so, daß es ihre Identifizierung mit
den perversen oder melodramatischen Exzessen
in seinen Werken nahelegt... Bronte sah schließ
lich Martins Einfluß als ungesund, fast gottesläs
terlich an ... Das Martinesque in ihren Romanen
mußte unterdrückt werden im Namen der „ho
hen" Kunst. Martins visuelle Texte gaben ihr ei
ne Sprache und Grammatik, in denen sie ihre ei
genen rebellischen Visionen plazieren konnte und
durch die sie dann auch ihre eigenen Konzepte
von Kunst und der Rolle des Künstlers artikulie
ren konnte. Das negative Urteil der Academy
über die cholerischen Gemälde von Martin ge
nügten, um sie vor Phantasieexzessen zu warnen
und etablierte literarische Sichtweisen bezüglich
der Zurückhaltung in der Kunst zu verfestigen. 41
So wurde Martin sowohl vom literarischen als
auch vom künstlerischen Establishment seiner
Zeit als jemand gesehen, der eine inakzeptable
Sprache benützte, da seine Werke besudelt wa
ren von wuchernden Details, Darstellungen hys
terischer und melodramatischer Emotionen und
schlaffer menschliche Figuren, die von ihrer Um
gebung ausgeschlossen waren. Martins Profani-
tät ergab sich so durch seine Pietätlosigkeit ge-
30 - Edwin Atherstone,
British Painters - Mr.
Martin, in: The Edin
burgh Review 49/1829,
S. 462.
31 - Ebenda, S. 471.
32 - Wie Anm. 3,
S. 102-103.
33 - William Bewick,
The Life and Letters of
William Bewick, 2 Bde,
hg. von Sir Thomas
Landseer, London 1871,
Bd. 1, S. 268-269.
34 - John Cage, J. M.
W. Turner: A Wonder-
ful Range ofMind, New
Haven 1987, S. 33.
Weiters unterstützt
meine These, daß Tur
ner weiterentwickelnd
die traditionellen Me
thoden der Kunst wei
terführen wollte die
Bemerkung von Gage:
„ Turners Hauptinteres
se galt der Demonstra
tion, wie die Natur mit
er Kunst versöhnt wer
den konnte, und in die
sem Fall mit dem anti
ken Kanon."
35 - Wie Anm. 29, S.
55-56, weiters Discour-
se V, S. 73 und Dis-
course VI, S. 97.
36 - Wie Anm. 10, S.
180. Trotz meiner eige
nen Bedenken bzgl.
Pendereds Text, bringe
ich dieses Zitat, da es
oft in Sekundärquellen
über Martin auftaucht.
37 - Richard Daniel Al
tick, The Shows of Lon
don, Cambridge/Mass.
1978, S. 404.
38 - Wie Anm. 20, S.
859.
39 - Wie Anm. 12, S. 7.
40 - Martin Meisel, The
Material Sublime: John
Martin, Byron, Turner
and the Theater, in:
Images of Romanticism:
Verbal and Visual Affi-
nities, New Haven
1978, S. 231.
41 - Christine Alexan
der, The Burning Clime:
Charlotte Bronte and
John Martin, in: Nine-
teenth-Century Litera-
ture 50/1995, S. 311-
315, 320.