Belvedere 1/2004
JAN INA NEN7WIG - Ikonographie der Abwesenheit - „Die Eisenbahn” von Manet
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(Abb. 6) als Protagonistin. Beide Bilder, auf die
hier rückblickend verwiesen wird, riefen bei ih
rer öffentlichen Ausstellung nicht zuletzt wegen
der unverkennbaren Anspielungen auf die Pari
ser Halbwelt Skandale hervor. Nach der Arbeit
an der „Eisenbahn" stand Victorine für Manet
nur noch ein einziges Mal Modell für die „Krok-
ketpartie” (1873, Frankfurt, Städelsches Kunst-
instut). So läßt sich nach Körners Meinung das
Blick auf das Hintergrundmotiv der Hausfassade
von Manets Atelier: die Blickrichtung und der
Arm des Kindes, Victorines Hut und die Dampf
wolke. Das Kind könnte jedoch ebenso gut auf
die Schienen und nicht zu der bloß skizzenhaft
ausgeführten Häuserzeile blicken. Wieso sollte
sich Manet so viel Mühe gegeben haben, von
seinem eigentlichen Anliegen durch Figuren, Git
ter und Dampf abzulenken? Der Wahl des Titels
Abb. 10 Detail von Abb. 9.
29 - Vgl. Harry Rand,
Manet's Contemplati-
on at the Gare Saint-
Lazare, Berkely 1987,
S. 26-77.
30 - Hans Körner,
Edouard Manet. Dan
dy, Flaneur, Maler,
München 1996, S. 158.
31 - Ebenda S. 160/
161: ttienne Moreau-
Nelanton, wie Anm.
10, S. 12, der als 15-
jähriger den Salon 1874
selbst besucht hat, be
richtet, daß das Salon
publikum Victorine
durchaus erkannte. Die
Kritik an der Wahl des
Modells wird sich an
dem hartnäckigen Ge
rücht, Victorine sei ei
ne Prostituierte, ent
zündet haben. Es gibt
jedoch keinerlei Bewei
se, daß sie jemals in
diesem Milieu gearbei
tet hat (vgl. Beatrice
Farwell, Manet and the
Nude. A Study in Ico-
nography in the Second
Empire. New York 1981
[zugl. Los Angeles, Uni-
versity of California,
Phil. Diss.], S. 160-163).
Sie wurde selbst künst
lerisch tätig und plat
zierte 1876 sogar ein
Selbstportrait im Salon.
In den achtziger Jahren
ging sie nach Amerika.
(Vgl. Hans Körner, wie
Anm. 30, S. 159.)
Bild als Abschied verstehen und in eine Reihe
von Arbeiten einordnen, in denen Manet die Er
innerung an ältere Werke wachruft. 31
Aufgrund der rein formalen Bildanalyse kommt
Juliet Wilson-Bareau zu dem Schluß, es handle
sich um eine Würdigung des neuen Ateliers, mit
der Manet gleichzeitig seine künstlerische Praxis
reflektiere. Trotz scheinbarer „Plein air" Technik
male er weiterhin im Atelier. Alles lenke den
„Die Eisenbahn" kann nicht so wenig Bedeutung
beigemessen werden.
Ed Lilley unterstreicht in seinem Aufsatz zu den
oftmals mysteriösen Bildbezeichnungen bei Ma
net, daß diese ein Teil von Manets künstlerischer
Strategie sind. In Ermangelung anderer Äußer
ungen des Künstlers stellen die Titel die wahr
scheinlich authentischsten Kommentare zu sei
nen Werken dar und lenken die Aufmerksamkeit