Full text: Von Frauen bewundert, von Männern unverstanden? Max Klingers Urteil des Paris (Curator's Choice, Nr. 2, 2022)

ROLF H. JOHANNSEN CURATOR‘S CHOICE 
# 2 / 2022 
4 
Göttinnen bereits gemalt. N iemand stieß sich an der Da r stellung des 
„Nackten“ , solange es „idealisiert“ und durch den Mythos ger echtf ertigt 
war wie etwa in William Adolp he Bouguer eaus be rühmtem Gemälde 
Die Geburt der Venus von 1879. 4 Provozierend war ander es. Zum einen 
die unterschwellige V ertauschung der Geschlechterrollen: Paris ver- 
legen dasitzen d und Herm es – die Haltung in Anlehnung an die antike 
Sta tue des Doryphoros (Speerträger) 5  – mehr n a rzisstischer griechi- 
scher Athlet als listiger Göt terbote. Doch K linger ging noch weiter und 
„verspannte“ die Figuren von Herme s und Paris in ein r echtwinkeliges 
Dreieck und damit in eine starre geometrische Form   
(⟶ 
Abb. 3). Zwei 
der drei Schenk el bilden die K örper von Hermes und P aris. Der dritte 
Schenkel verläuft als gedach te Linie vom Kopf des Herm es zu den 
Zehen des Pa ris. Hinzu kommt der dunkle Waldhintergrund, vor dem 
die Männer stehen beziehungsweise sitzen. Ganz anders die Göttin- 
nen, wobei auch hier wie bei der Figur des Hermes Anregungen aus 
der (nunmehr zeitgenössischen) Skulptur zum Tragen gekommen sein 
d ürften: 6 Sie bew egen sich frei, auta rk und unabhängig voneinander 
vor einem lichtblauen Meer eshorizont und den Ausläuf ern eines Ge- 
bir ges. – „Jede im Ausdrucke klar und deutlich, keine Spur von K ompo- 
sition, von Str eben nach schönen Linien oder nach einer theatralischen 
Gruppierung“ , heißt es dazu 1903 in der Zei t schrift Das Wissen für 
alle. 7 – Ohne A ttitüde, ohne schamhaft abgewandten Blick oder vor 
den Schoß gehaltene Hand agier en die Göttinnen auf einer schmalen 
Bühne oder R ampe, die sich über die ganze Breite des Bildes erstreckt. 
Darunter , in einem durch eine Leiste abgesetzten Bildstreifen, ragen 
drei Köpfe plastisch hervor: in der Mitte der von Eris (Discordia), der 
Göt tin der Zwietracht und der Eifersucht, links der des W eingottes 
Dionysos (Bacchus), r echts der eines mit einem U ngeheuer rin genden 
Titanen. 
Mit List hatte Eris dem antiken Myt hos zufolge einen goldenen 
Apfel mit der Aufschrift „der Schönsten“ auf einem Hochzeitsfest, zu 
dem sie nicht gela den war, Hera, Aphr odite und A thena vor die Füße 
geworfen. Dieser Apfel liegt in Klinger s Bild in einer Muschelschale, 
worin zugleich ein Hinweis auf Aphrodite (deutsch: „die Meerschaum- 
geborene“) zu verstehen ist: In einer Muschelschale stehend entstieg 
Aphr odite dem Meer. 8 Eris hält die genannte Scha le mit beid en Hände n 
über ihren Kopf, r eicht den Apfel so zu Herm es, Paris und den G öttin- 
nen empor 
(⟶ 
Abb. 4). Mit d ieser Geste überspielt K linger im Sinne 
des Gesamtkun st werk s be ziehungsw e ise der „Raumkunst“ zugleich die 
Gattungsgrenzen zwischen Malerei, Skulptur und (Rahmen-)Architektur . 
Angelegt ist dies ber eits bei Diony sos, dessen plastischer Kopf frontal 
ausgerich tet ist und so zum „Sockel“ für den gemalten P feiler mit der 
4 William Adolphe Bouguereau, La naissance de Vénus, 1879, Öl auf Leinwand, 300 × 215 cm, Musée d’Orsay, Par is; 
 vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Die_Geburt_der_V enus_(Bouguereau)&oldid=211774285 (zuletzt besucht am 22. 7. 2021). 
5 Die Statu e des Bildhauers Polyklet aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. selbst ist verloren, doch sind mehrere Kopien aus römischer Zeit überliefert; 
 vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Doryphoros&oldid=180629195 (zuletzt besucht am 22. 7. 2021) . 
6 Vgl. etwa Charles-Auguste Arnaud, Vénus aux cheveux d’or, 1863, Marmor, Höhe: 210 cm, Musée national du Château, Compiègne; 
 vgl. https://art.rmngp.fr/fr/library/artworks/charles-auguste-arnaud_venus-aux-cheveux-d-or_marbre-blanc_sculpte (zuletzt besucht am 22. 7. 2021) . 
7 A. Kornfeld, „Spaziergänge durch die Moderne Galerie“, in: Das Wissen für alle. V olksthümliche Vorträge und populär wissenschaftliche Rundschau, 3. Jg., 1903,   
 Teil 11, S. 618– 621, hier S. 619. 
8 So in Bouguereaus bereits erwähntem Gemälde und in der wohl berühmtesten Darstellung der Szene, Sandro Botticellis Geburt der Venus von 1485/8 6 
  (Uffizien, Florenz); vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Die_Geburt_der_V enus_(Botticelli)&oldid=212416452 (zuletzt besucht am 23. 7. 2021). 
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Abb. 4: Max Klinger, Das Urteil des Par is, Detail: 
die Gött in Eris, 1885 –87, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 433i; 
Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien 
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Abb. 5: Max Klinger, Das Urteil des Pa ris, Detail: Amor 
und Medusa, 1885 –87, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 433i; 
Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien
	        
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