MIROSLAV HAĽÁK CURATOR‘S CHOICE
# 4 / 2022
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angesehen. 4 Die Sz ene, in der Apollon mit Pf eilen auf die M enschen
schießt, bez ieht sich auf den er sten Gesang der homeri sc hen Il ias,
Verse 30 und 70, wo der tro janische Priester Chryses den „leuchtenden
Apollon“ um Gerechtigkeit bittet, weil der Griechenk önig Agamemnon
seine T o chter entführt hat. Ausgerüstet mit einem Silberbogen, eines
sei ner Erk enn ungsatt rib ute, beschießt Apol lon die Hellenen mit Pf eilen
und verbreitet so die Pest. „Und es klirrten die Pfeile an den Schultern
[…], und er sch ritt hin, der Nacht gleich. Setzte sich dann, abseits von
Schiffen, und sandte den Pfeil auf sie, und ein schrecklicher Klang kam
von dem silbernen Bogen.“ 5
Die Formensprache dieser dramatischen Szene folgt im Bild einem
bestim mten ä sthetisc hen Modus. Neoklassizistische T endenzen und
das Aufleben der Antike in der Kultur des 19. Jahrhunderts führten
letztl ich zu einem neuen K örperkult. Die Idealisierung v er schiede ner
histo risch-m y thischer V orl agen aus der g ri ec hisch-r ömischen Tradi-
tion wirkte auch auf die ästhetischen Präferenzen der br eiten Gesell-
scha ft. Exemplarisch für diese Bewegung wäre die Wie derbelebu ng der
Ol ympischen Spiele 1896 in Athen zu erwähnen, initiiert von Pierr e de
Coubertin. Abgesehen von diesem Erfolgsprojekt wurden zu jener Zeit
Sport und K örperpflege zum ersten Mal in der neueren eur opä ischen
Gesch ichte ideologisch, m ilitä risch und im br eitesten Sinne politisch
instrumentalisiert.
Erste I nterpr etationsebene: Formanalyse und Körperästhetik
In einer Linearperspektive werden die dominanten Sichtachsen kon-
struiert. Den radial ausstrahlenden Diag onalen und der Horizonta le
passt sich die Aufbaustruktur des gesamten Bildes an
(→
Abb. 2).
Der Fluchtp u nkt, welcher mittig am link en Rand unter dem T orbogen
platziert ist, konzentriert optisc h alle K örper in der K ompositio n , mit
Ausnahme jenes des Apol lon. Der dadurch erze ugte Tiefeneffekt sorgt
für eine effektive Dynamisierung der Darstellung.
Um eine ge wisse Balance in der K omposition zu bewahren, wer-
den Mittel eingesetzt, die gegen die Sogwirkung der konzentrierten
Per spektivl in ien arbeiten. Durch mark ante Bl ickrichtungen wird eine
W echselwirkung erreicht. Dem Auge des zielende n Apo llon
(→
Abb. 3)
(rote Linie) ist das Antlit z der ei nzigen den Betrachtenden zugewand-
ten Figur deutlich entgegengesetzt (schwarze Linie). Die verkrampften
und expressiven K örperhaltungen e iniger Schlüsselfiguren sowie die
bewusst k omponierte F ührung länglicher Gegenstände, etwa des
silbernen Pfeilköchers, bilden op tische Achsen, die von unten links
nach oben rechts wirk en (blaue Linien). Um die dadur ch gesteigerte
Dramatik zu neutralisieren, ist die Szene vor einer sta tischen, detail-
losen Hin ter grun da r chitektur angesiede l t. Auch die für Alexander
Rot haug ty pische pastellige Pa lette, die chromatisch in Ocker, Blau
und Orange geha ltene T onalität, mildert die expressive Gesamt-
stimmung der K omposition.
Die ser konsequente Bildaufbau scheint der Zur schaustellung der
opulenten K örperlichkeit des Hauptakteurs zu dienen. Zur Zeit der
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Abb. 2: Alexander Rothaug, Apollo, die Pestpfeile
aussendend, um 1920, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 4048;
Foto: Belvedere, Wien (Fluchtlinien)
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Abb. 3: Alexander Rothaug, Apollo, die Pestpfeile
aussendend, um 1920, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 4048;
Foto: Belvedere, Wien (Kompositionslinien)
4 Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Wien 1959, S. 39f.
5 Homer, Ilias, neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt am Main 1975, S. 8.