MIROSLAV HAĽÁK CURATOR‘S CHOICE
# 4 / 2022
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versucht auch der Physiologe Ernst Brück e, die Plastizität, welche auf
die Bildfläche übertragen werden soll, zu beschr e iben. Ähnliche physio-
lo gische Prinzipien werden auch von Roth aug in der bereits erwähnten
Formlehre Sta tik und Dynamik des m enschl ichen K örper s verfolgt, wenn
er schr eibt, dass die anatomische Form aus Höhen und Tiefen besteht.
Die Energie der modellierten Figur stärkt deren Sonderfunktion in
der dargestellten Szene. Die Gesta lt des Apol lon ist mehr die eines
Athleten als die eines Krieger s. Über dim ension iert, ohne schützend e
Rüstung, sich sei ner Unv erletzlichkeit be wusst rächt er die Ungerech-
tigkeit. Einerseits schützend, andererseits strafend, einerseits gemä-
ßigt pragmatisch, andererseits unerschöpflich kreativ ist Apollon die
per sonif izierte U nber echenbark eit. Als Pr o j ektionsflä che m enschl icher
Gespaltenheit wird er in der übertriebenen Pose phy sischer Erhaben-
heit als V erursacher me nsch licher T ragödie gezeigt.
Sein Zorn richtet sich dabei ausnahmslos auf die Menschen, nicht
auf die ar c hitektonische Umgebung. Durch expressive, theatralische
Gestik und v erkr ampfte K örperp osen wird das ph ysische und psychi-
sche Leid der Protagonist*innen a u sgedrückt. Par adox er scheint die
Sterilität der Da r stellung: Wie in einem aufgeräumten Bühne nbild
werden die Figuren vor eine kühle K ulisse gestellt. Kein neusach licher
Kommentar zur sozialen Na chkriegstristesse, auch keine spätexpressio-
nistische Formenfr e iheit begegnet uns in diese m Bild. Als symbolistisch,
jugendstillastig und neokla ssisch mit einem Hang zur sonderlichen Kör-
per äst hetik wäre der stilistische Duktu s zu b ezeichnen . Das Sujet der
Pest, das in den Nachkriegs jahr en kaum aktueller sein konnte, v erliert
durch die Idealisierung und Her oisierun g an Brisanz. Statt eines tragi-
schen Berich ts über die durch Krieg und Pandemie dezim ierte Gesell -
scha ft erblick en wir einen erbarmun g slosen Räch er . Der Gott des Lichts,
der Harmonie, der Mediz in verliert sogar beim Töten nichts von sein em
G lanz. 12 Dies ist umso beunruhigender , als dadur ch der Ra chegedank e
nach dem verlorenen Krieg, Gewalt im Dienste höherer Ideale und die
Anonymisi erung der Leidenden legitimie rt werden.
Sind die Sterilitä t, der V erzicht auf „unschöne“ Detail s wie Wunden,
Blut, Schmutz und Zerfa ll nur dem eigenen künstlerischen Empfinden
geschuldet? Das Bild v ermittelt eine formalisierte Realität, die als
Parallelstr ömung zur ideal istischen Subjektivierung den men sc hlichen
Körper zweckbedingt als eine Ma schine betr a chtete. Die W ahrnehmung
des men sc hlichen Körpers änderte sich Ende des 19. Jahrhunderts dank
zahlreicher Entdeckun gen und Erfindungen wie der Röntgenaufnahme
m a ßgeblich. 13 Die bereits in der Renaissance angestrebte mechanisti-
sche Betr a chtung des K örper s wurde legitimi ert , was auch zur negativen
sozialhier archischen O b jektivierung des Menschen beitrug. Kubismus,
Futurismus und K onstruktivismus haben zu Beginn des 20. Ja hrhund erts
den immer populäreren Kanon der neuen „K örperwelten“ nicht erschaf-
fen, sonde rn lautstark artikuliert. Der Mensch soll als Ma schine nicht
nur reparierbar sein, was dem damaligen Aufschwung in der Medizi n
entspricht, sondern auch e rw eiterbar , anpassbar und nachrüstbar . So
k onnten sich mehrere irreführende Methoden und Disziplinen etablieren,
12 Michael Jordan , Encyklopedie bohů, Prag 1997, S. 43.
13 Vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2002, S. 90.