Full text: Pathos des Apollon. Eine bildanthropologische Analyse des Werks Apollo, die Pestpfeile aussendend (um 1920) von Alexander Rothaug (Curator's Choice, Nr. 4, 2022)

MIROSLAV HAĽÁK CURATOR‘S CHOICE 
# 4 / 2022 
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die die Menschheit zur quantitativen und qualitativen Steigeru ng führ en 
soll ten. Als besonders fatales Beispiel wäre an di eser Stell e die Eugenik 
zu nen nen. 
Den Menschen f unktionell, als eine Maschine anzu sehen, wie es 
Ro thaug in se inem Text von 1933 tut, ist an sich nicht gänzlich abw egig. 
Der Arzt Fritz Kahn hat 1926 neue di da ktische Wege beschritten, indem 
er auf seine m berühmten Pla kat Der M ensch als Ind ustriepa la st den 
Körper zur Fabrik erklä rte. Wie aber viele ander e Beispiele aus der Wis- 
senschaftsgeschichte zeigen , führte eine u nkritische Objektivierung des 
Menschen auch zu einer Dehumanisi erung, indem der Schein mehr galt 
als das Sein. 
D ritte Interpretationsebene: das Nachleben des Bildes , eine 
diachrone Positionierung 
1920 können wir als Inspiration für das gewählte Sujet das naheliegende 
histo rische Ereignis des Ausbruchs der Spanischen Gripp e heranziehen. 
Am Ende des Er sten W eltkriegs und unmittelbar danach dezim ierten 
die drei Wellen die ser Pandemie die bereits geschwächte Bev ölk erung. 
Alexander Rothaug muss in Wien die Auswirkungen der S panischen 
Grip pe mitbek omm en haben. Die V erknüpfung der Nac hkrie g spande- 
mie mit dem antiken Myth os wurde sicherlich bewusst her gestell t. Der 
Apo llon-Myth os d ürfte Rot haug nämlich schon f rüher bekannt gewesen 
sein, weil er diesen ber eits 1914 gemeinsam mit Rudolf J ettmar in der 
gr oßen Kuppel des Kursaals von Meran kün stl erisch verarbeitete. 
Hätt en wir als Gesellsc haft seit dem Frühjahr 2020 keine Erfa hrun- 
gen mit einer globalen Pandem ie gemacht, wäre diese Apol lon-Dar - 
stellung wohl in der Histo rie eingeka pselt. Geschehnisse j üngster Zeit 
haben das Motiv wieder aktualisiert: Die ök ol ogisch-po litisch-pa n demi - 
schen Bedi ngungen im Jahr 2021 w eisen Ana logien zur Zeit um 1920 
auf. Die naheliegendste Ana logie wäre selbstv erständlich die von einer 
gefährlichen Krankheit h e imgesuchte Gesellschaft. Blicken wir tiefer , 
fin den wir weitere, durchaus beu nruhigende Aspekte, die den V er gleich 
plausibler machen. 
Zu behaupten, unser e Gesellschaft hätte sich beim Ausbruch der 
Pandemie nicht in einem Krisenzu sta nd befunden, wie es nach dem 
Krieg 1918 der Fall war, ist unkorrekt. Them en unserer Zeit wie h ybride 
Kriegsführun g , P ostf aktizität , Fluchtbewegungen, Rassismu s, Xenoph o- 
bie, Klimakrise l asten auf der gesamten Menschheit. Ein erbarmungs- 
loser Gott als Räc her unserer Taten ist zwar in der heutigen visuellen 
K ommu nika tion ein Anachr onism us, das Bild der „ v erdienten“ Strafe 
bietet aber durchaus kritische Anhaltspunkte. Diese fi nden wir in der 
Pol arisierun g der Gesellsc haft, die sich einerseits trotz allen Krisenb e- 
wusstseins nur langsa m von gewohnten Weltbildern löst und anderer- 
seits immer noch gemeinsamer Feindbilder bedie nt, seien diese Flücht - 
linge, r eligiöse Gruppen, Reiche, Arme, Aktivist*innen, Fundamentalist*in- 
nen, K onspirat or*inne n oder Querd enken de. Der Persone nkult neuer 
Diktator*innen, die Ausbreitung konfliktreicher Ideologien und die 
virulente Virtualität der digita len Massenmedien indizieren die 
Pathologien der p ostmodern en Gesellsc haft und l assen die fatale Idee 
einer dehumanisierten Menschen-Maschine sowie das „Schö n reden“ von 
Verbrechen im Dienste höherer Ideal e auch im 21. Jahrhundert wiederaufleben.
	        
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