MIROSLAV HAĽÁK CURATOR‘S CHOICE
# 4 / 2022
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Abb. 4: Alexander Rothaug, Kassandra, 1911, Tempera
auf Holz, 65 × 111 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 4045;
Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien
Das diskonforme Bild und der institutionelle Diskomfort
Die Figur Apollons mit einem ideal i sierten Führer und die Hellenen mit
einer zu bestrafenden Feindesgruppe gleichzusetzen fiel der Pr opa ganda
des Drit ten Reiches bestim mt nicht sch wer . Heroen, die über Merkmale
k ör perlicher und geistiger Überlegenheit verfügen, wirkten und wirken
id entitä tsstiftend . Nach der Wende vom 19. zum 20. Ja hrhunde rt ist in
der K örperkultur ein Par adigm enw echsel f eststell bar , der sich auch in
der Kunstproduktion wider spiegelt. In den „Roaring T wenties“ wur den
immer noch Themen und Stile gepfl egt, die die aufkommenden totalitä-
ren Systeme dann i nstrume nta lisierten. Beim V er gleich von Apol lo, die
Pestpf eile aussen dend mit einem weiteren Bild Rot haugs in der Samm-
lung des Belvedere, K assandr a aus dem Jahr 1911
(→
Abb. 4), lassen sich
weitere Anal ogien feststellen.
K assandr a, die T och ter des trojanischen K önigs Priamos, wird von
Apollon mit der Gabe des W eissagens beschenkt, da sie aber seine
Liebe nicht erwidert, v erflucht der Gott sie, sodass ihre Prophezeiungen
keinen Glauben finden. 14 In der Dar st ellung erkennen wir die Gestal t
Kassandras auf der Treppe zum Tempel stehen d. Ihre W arnungen bleiben
von der tobende n Menge ungehört. In gewisser Weise k önnten die bei-
den Bilder als Pendants gesehen werden, was ihre Deutun g b etrifft: die
K assandra-Szene als Warnung vor der drohenden Gefa hr , 1911 wäre dies
der sich ankündigende m ilitä rische K onflikt. Die Apollon-Darstellung
dagegen als Bestrafung für die in den Kriegsjahren begangenen Fehler.
Wenn Roth aug Themen aus der apo llinischen Mythologie wählt be-
ziehu ngsw eise das or gia stische F eiern der Anhänger*innen des Dionysos
(Ba cchus) darstellt, kann er auf wich tige philo sophisch - ä sthetisch e Ab-
handlungen zurückgreifen. F riedrich Nietzsche erklärt in Die Gebu rt der
T ragödie (1872) das N ebene inander des Apo llinischen und des Dionysi-
schen als das sc höpf erische Spannungsverhältnis, zum Beispiel zwischen
dem Produktiven und dem Destruktiv en, in jed em, nicht nur k ünstleri-
schen, Kreativakt: „Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz,
von dem dionysisch en Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem
menschlichen Individu um ins Be wußtsein treten, als von jener apollini-
schen V e rkl ärungskr aft wieder überwunden werden kann, so daß diese
beid en Kunsttriebe ihre Kräfte in str enger wechselseitiger Pr opo rtion,
nach dem Gesetze ewiger Ger echtigk eit, zu entfalten genötigt sind. “ 15
Wenn diese W echselseitigkeit nicht als Grundkonzept der Kunst begrif-
fen wird, kann eine eingeschränkte Sichtw eise zur ideologischen Polari-
sierung führen. Bilder zu instrumentalisieren bedeutet im Prinz ip, deren
K omplexität zu negieren und nur auf einer situationskonformen Inha lts-
ebene zu basier en. Schwarz-W eiß-Denken lässt wenig Spielraum für
intensivere Einblick e in die Kunst, die aus dem e wigen Lavieren zwischen
harmonischer , maßvoller Sc hönheit und trunkener Raserei entsteht . 16
Je tiefer in die Schich ten der formalen Struktu r en der Bilder vorge-
dru ngen wird, umso weitreichender und pr oblem a tischer erscheinen
auch die inhaltlichen Spur en, die zu histo rischen Deutungen, aber auch
zu Analogien im Heute führ en. Derlei Bilder im Mu seumsb etrieb zu
14 Vgl. Hunger 1959 (wie Anm. 4), S. 180f.
15 Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie“, in: ders., Menschliches Allzumenschliches und andere Schriften. Werke 1, Köln 1994, S. 149f.
16 Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982, S. 149.