FRANZ SMOLA CURATOR‘S CHOICE
# 6 / 2023
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ls Marie Bashkirtseff 1882 in Paris das Gemälde Im Nebel schuf,
hatte sie bereits fünf Jahre an der privaten Pariser Kunstakademie
Julian studi ert (→ Abb. 1). Neben Rodo lphe Julian, dem Gründer und Lei-
ter der Akademie, zählte zu ihren Lehrern auch Tony Robert-Fleury . Beide
waren einer konventionellen Salonmalerei v erpflich tet. Danebe n hatte
B ashkirtseff auch engen Kontakt mit Jules Bast ie n-Lepa ge, einem Haupt-
vertreter des Realismus, desse n Schilderungen aus dem bäuerlichen Milieu
in der Pariser Kunstw elt gr oßen Eindruck hinterl i eßen. Von die sen V orbil-
dern ausgehend konzentrierte sich auch B ashkirtseff vorwiegend auf figür-
liche Szenen in r ealistischer Formensprache. Aufsehen erregte sie etwa mit
einer Darstellung, die einen Einblick in den Klassenraum ihrer Kunstak ade-
mie gewährt. Doch erscheint aus heutiger Sicht in die sen Werken die Nähe
zu ihren V orbildern noch zu groß, um der jun gen Malerin bereits künstle-
rische Eigenständigkeit zu attestieren. Zu früh ereilte sie ihr tragischer Tod,
als dass sie aus dem Schatten ihrer Vorbilder hätte heraustreten können.
Anders verhält sich dies jedoch bei den w enigen Landschaftsschilde-
ru ngen, die Ba shkirtseff in ihrer ku rzen Laufbahn als Malerin geschaffen
hat. Diese gehen über eine bloße realistische Schilderung hinaus und
weisen durchaus bereits impressionistische Merkmale auf. Im Gemälde
Im Nebel zeigt sich dies etwa an der Wahl des völlig unspektakulären
Straßenausschnitts, an der Betonung der Lichtstimmung und letztlich auch
an der eigentümlich skizz enha ften Malweise. Sol che impr essionistischen
Stadtansichten erscheinen in den frühen 1880er-Jahren noch k einesfal ls
selbstv erständlich.
Wohl aufgrund der oben beschriebenen eher konv entionellen Porträt-
und Milieudarstellungen, die im schmalen Œuvre der jung v er storbenen
Künstlerin ü berwiegen, wurde das malerische Werk Bashkirtseffs bisher
keiner eingehend en ku nsthisto rischen Untersuchung unterzogen. Zudem
stand Ba shkirtseffs Rolle als Malerin stets im Scha tten ihrer großen Po-
pularit ät als Schriftst e l lerin. Ihr ma lerisches Werk wurde b isher vor allem
aus der Sicht der Liter a turwissen sch aft betrachtet und nicht aus dem
B lickwink el der Kunstgeschichte. So fin det sich in der Disserta tion, die
Sabine Voigt den T agebüchern Ba shkirtseffs gewidmet hat, zwar ein
W erkv erzeichnis der kün stl erischen Arbeiten, das j edoch keine Abbildun-
gen enthä lt und sich lediglich auf eine drei Seiten umfassende Auflis-
tung der B ildtitel beschränkt. 1 Hier dü rften viele Lück en vorliegen, auch
das Gemälde Im Nebel aus dem Belvedere scheint darin nicht auf. Erst
mit der Retrospektive, die das Musée des Beaux-Arts Jules Chér et in
Nizza 1995 veranstaltete, rückte ihr bildnerisches Scha ffen verstärkt in
den Blickpunkt, wenngleich die Ausw ahl der Werke sehr beschränkt war
und die Texte im begleitend en Katalog sich auf motivisc he Beschreibun-
gen beschränken, aber auf jegliche kunsthistorische K ontextualisierung
verzichten. 2 Zuletzt waren Bilder Ba shkirtseffs in der Ausstell u ng Women
Artists in Paris 1850 – 1900 zu sehen , die, von der American Federation
of the Arts or ganisiert, im Denver Art Muse um, im Speed Art M useum in
Louisville sowie im Clark Art Institute in Williamstown gezeigt wur de. 3
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Abb. 1: Marie Bashk irtse ff im Alter von 18 Jahren,
Aufnahme Atelier Waléry, Paris, 1876, Fotografie,
Foto: Bibliothèque nationale de France
1 Sabi ne Voigt, Die Tagebücher der Marie Bashkirtseff von 1877 – 1884, Dortmund 1997, S. 275–277 .
2 Marie Bashkirtseff, peintre et sculpteur & écrivain et témoin de son temps (Ausst.-Kat. Musée des Beaux-Arts Jules Chéret, Palais Masséna und Bibliothèque du
Chevalier de Cessole, Nizza), Nizza 1995.
3 Madeleine Laurence (Hg.), Women Artists in Paris 1850 – 1900 (Ausst.-Kat. Denver Art Museum; Speed Art Museum, Louisville; Clark Art Institute, Williamstown),
New Haven, Conn. 2017. A